Was ist Stigma?
Stigma bedeutet wörtlich »Brandmal« oder »Kennzeichen«. Doch ein Stigma ist keine Sache, sondern ein sozialer Prozess, der auf Zuschreibungen, Abgrenzung und Abwertung basiert.
Laut dem Soziologen Erving Goffman, der in den 60ern ein Grundlagenwerk dazu geschrieben hat, dient ein Stigma dazu, »etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren.«
Substanzkonsumstörungen, wie die Alkoholabhängigkeit, gehören zu den am meisten stigmatisierten Erkrankungen. Menschen werden z.B. als Alkoholiker:innen gelabelt – ganz so als würden sie sich grundlegend von den »normalen Trinker:innen« unterscheiden. Oft wird Betroffenen die Schuld an ihrem Leiden gegeben und ein »schlechter Charakter« zugeschrieben.
Das führt unter anderem zu Ausgrenzung und Abwertung (auch im Gesundheitsystem) oder zu schlechterer Finanzierung von Hilfsangeboten. Menschen mit Suchterkrankung stehen unter Druck, ihre Erkrankung geheim zu halten oder zu relativieren – auch um die erwarteten Diskriminierungen gar nicht erst erleben zu müssen.
»Stigma - the situation of the individual who is disqualified from full social acceptance.«
– Erving Goffman, Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity
Die Lüge vom verantwortungs-vollen Trinken
Im Herzen des Suchtstigmas liegt der Vorwurf: Selbst Schuld!
Das sagen natürlich die wenigsten Leute so direkt. Stattdessen betont zum Beispiel die Alkohollobby das »verantwortungsvolle Trinken«. Sie verbreitet die Idee, dass es eine große Mehrheit gibt, für die der »moderate Konsum« keinerlei Probleme darstellt (übrigens ohne genau zu sagen, wie der aussehen soll). Im Umkehrschluss heißt das: Wenn es dir nicht gelingt, deinen Konsum zu kontrollieren, ist das ganz allein dein Problem – die anderen schaffen es schließlich auch. Wer schon einmal abhängig war, kennt vermutlich solche Gedanken: Wieso schaffen es die anderen, nur ich nicht? Wieso bin ich zu schwach, das zu kontrollieren? Was ist falsch mit mir, dass ich nicht nach einem Glas aufhören kann?
Was da aus dir spricht, ist das Stigma, das du verinnerlicht hast. Denn in Wahrheit bist du natürlich überhaupt nicht allein mit diesem Problem und du bist auch nicht Schuld daran.
Doch unsere Scham ist lukrativ, weil unser Trinken lukrativ ist. Und wer sich selbst die Schuld gibt, fordert auch keine gesellschaftlichen Veränderungen.
»Alle, die trinken und meinen, sie hätten kein Problem damit, die werden gestärkt. Die bauchpinselt man, dass sie ja so verantwortungsvoll sind und voll die Kontrolle haben. Dass das ja Genuss ist und Lebensqualität und Kultur. Da wird alles genutzt, von der Obstbaumwiese bis zum Grundnahrungsmittel, um Alkohol zu verharmlosen.
Und dann wird schamlos die gar nicht so kleine Minderheit derjenigen, die ein Problem hat, einfach vor den Bus geschmissen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dass man das machen kann, ist ein Ergebnis von Stigmatisierung.«
Was die Industrie lieber verschweigt
(unvollständige Liste)
Es gibt keine risikofreie oder gar gesunde Menge Alkohol.
Alkoholprobleme beginnen nicht erst bei einer körperlichen Abhängigkeit. Sowohl gesundheitliche Probleme als auch psychische oder soziale Folgen können weit vorher eintreten.
Die Industrie macht über die Hälfte ihres Umsatzes mit denjenigen, die riskant oder abhängig trinken. Würde das Konzept des »verantwortungsvollen Trinkens« funktionieren, würde das zu riesigen Umsatzeinbußen führen.
Verhältnisprävention auf gesellschaftlicher Ebene, wie Werbeverbote oder Preiserhöhungen, senkt den Alkoholkonsum nachweislich effektiver als individuelle Verhaltensprävention, etwa Kampagnen wie »Kenn dein Limit«. Es liegt auf der Hand, welche Maßnahmen der Alkohol-Lobby wohl lieber sind.
»Die Annahme ist, dass alle Erwachsenen ohne Alkoholabhängigkeit in der Lage wären, selbst über ihren Konsum zu entscheiden. Aber dafür gibt es gar nicht genug Wissen in der Gesellschaft.«
Viele Menschen haben ein schwarz/weiß Bild von Abhängigkeit im Kopf. Nach dem Motto: Entweder du bist süchtig oder nicht. Das ist Quatsch. Auf dem Weg in die Sucht steht kein Schild, das dir sagt »Achtung, du verlässt jetzt die spaßfreie Zone. Next Stop: Leberzirrhose.« Viel mehr findet Abhängigkeit auf einem Kontinuum statt.
Diese Idee spiegelt auch das sogenannte »Dynamische Modell der Verantwortung« von Georg Schomerus wider (siehe Bild). Es besagt, dass Menschen, deren Erkrankung noch nicht so weit fortgeschritten ist, mehr Verantwortung für ihre Genesung tragen können als jene, die schon tief drin stecken. Macht irgendwie Sinn, oder? Menschen mit einer schweren Abhängigkeit brauchen mehr Hilfe von außen. Recovery würde demnach bedeuten, Schritt für Schritt zurück in die Selbstverantwortung zu kommen.
Sucht ist ein Spektrum
»Verantwortung des Umfeldes« meint übrigens nicht nur das direkte Umfeld. Vielmehr geht es hier um eine gesellschaftliche Verantwortung, eine bessere Alkoholpolitik und wirksame Maßnahmen der Verhältnisprävention.
»Ich kannte die Härte in den Stimmen der Menschen, wenn sie über Verwandte, Bekannte oder Fremde auf der Straße mit Alkoholproblemen sprachen. Sie sagten das Wort Alkoholiker, als würden sie es ausspucken. Ich wollte nicht ausgespuckt werden.«
Bin ich wirklich so scheiße?
Wie Selbststigma wirkt
Vermutlich bist du mit vielen negativen Stereotypen über Alkoholabhängige aufgewachsen. Und irgendwann hast du begonnen, sie zu glauben – Wieso auch nicht? Das Problem ist nur: Wenn du selbst gerade dabei bist, ein Problem zu entwickeln (oder vielleicht schon mitten drin steckst), kommst du in einen Identitätskonflikt: Bist du zum Beispiel der Überzeugung, dass Menschen mit Abhängigkeitserkrankung schwach und faul sind, wirst du dich fragen müssen: Bin ich das auch?
Viele von uns versuchen diesen Mindfuck zu umgehen, indem sie sich sagen, dass das Problem eigentlich keines ist und sie selbst nicht zu dieser Gruppe gehören. Das nennt man auch »Label Avoidance« und ist ein Aspekt vom sogenannten »Selbststigma«.
4 Stadien der Selbst-Stigmatisierung
(»The progressive model of self-stigma« von Patrick Corrigan)
1. Bewusstsein
Du weißt, was andere über Menschen mit Alkoholproblemen denken.
2. Zustimmung
Du stimmst den Stereotypen zu.
3. Anwendung
Du wendest diese Stereotype auf dich selbst an.
4. Selbstwertverletzung
Dein Selbstwert leidet, weil du schlecht über dich denkst.
Wäre ein bisschen Scham nicht angebracht?
Es ist eine (leider) sehr verbreitete Idee, dass man Menschen mit Suchterkrankungen ein bisschen unfreundlich oder schlecht behandeln sollte, damit sie merken, dass man ihr Verhalten nicht in Ordnung findet. In Podcastfolge #210 nennt Georg Schomerus das »aus moralischen Gründen unfreundlich sein.«
Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass Beschämung hilfreich ist, um Leute zu motivieren mit dem Trinken aufzuhören. Im Gegenteil! Das Stigma und die Scham machen es schwerer, sich das Problem anzuschauen, sich mitzuteilen und um Hilfe zu bitten. Das kennen wir vielleicht selbst aus unserem eigenen Leben.
Stell dir mal vor, du hättest einfach über dein Alkoholproblem reden können, ohne die Angst, dass die andere Person schlecht von dir denkt. Crazy.
Es gibt auch Daten, die belegen, dass Stigmatisierung absolut nicht hilfreich ist. Würde es nämlich wirklich etwas nützen, Alkoholkranke schlecht zu behandeln, müssten Menschen in Ländern mit hoher Stigmatisierung so abgeschreckt sein, dass sie automatisch weniger trinken oder seltener abhängig werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Dort wo das Stigma stark ist, wird auch mehr getrunken (bzw. andersherum).
Es ist also klar: Auf dem Weg in ein unabhängiges Leben brauchen wir keine Beschämung und Abwertung. Viel nützlicher sind zum Beispiel ein unterstützendes Umfeld, ein stabiler Selbstwert sowie Mut und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Vorbilder, Mitgefühl mit dir selbst und anderen – und die Hoffnung, dass auf der anderen Seite etwas Gutes auf dich wartet.
SodaKlub-Folgen über Stigma
Ist alles Stigma?
Manchmal bekommt man den Eindruck, dass irgendwie alles Stigmatisierung ist. Und natürlich gibt es auch in diesem Forschungsbereich unterschiedliche Meinungen, was der Begriff beinhaltet. Das haben sich auch Bruce G. Link und Jo C. Phelan gedacht, als sie ihre Arbeit »Conceptualizing Stigma« schrieben.
Anleitung zum Stigmatisieren (frei nach Link und Phelan):
Identifiziere eine Gruppe von Personen und gib ihnen ein Label.
Schreibe diesen Personen weitere negative Stereotype zu.
Sorge dafür, dass diese Gruppe als grundlegend anders wahrgenommen wird, sodass du eine klare Grenze zwischen »uns« und »denen« ziehen kannst.
Sorge dafür, dass die Menschen in dieser Gruppe ihren sozialen Status verlieren und benachteiligt werden.
Ein richtig fettes Stigma, durch das Menschen ausgeschlossen, abgewertet und zurückgewiesen werden, erschaffst du natürlich nicht allein. Damit diese vier Kompenenten wirken können, brauchst du Macht. Viel Macht. Gesellschaftliche Macht. Denn Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess.
In »Conceptualizing Stigma« heißt es: »Wir verwenden den Begriff Stigma, wenn Elemente wie Labeling, Stereotypisierung, Abspaltung, Statusverlust und Diskriminierung in einer Machtsituation zusammenkommen, die es ermöglicht, dass sich die Komponenten des Stigmas entfalten.«
Dynamisches Modell von Verantwortung: Schomerus, Georg; Corrigan, Patrick William. The Stigma of Substance Use Disorders (English Edition) (S.6). Cambridge University Press. Kindle-Version.
Mehr Alkoholkonsum – Mehr Stigma: »The bigger the drinking problem on a country level, the more harsh is the reaction of people toward an individual with an SUD in that country.« (ebd. S.3)
Vier Stufen des Selbst-Stigma: Corrigan, P. W., Rafacz, J., & Rüsch, N. (2011). Examining a progressive model of self-stigma and its impact on people with serious mental illness. Psychiatry Research, 189(3), 339–343. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2011.05.024
Goffman-Zitate: Goffman, Erving. Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity (English Edition). Simon & Schuster.
keine potenziell gesundheitsfördernde und sichere Alkoholmenge: Richter M, Tauer J, Conrad J, Heil E, Kroke A, Virmani K, Watzl B on behalf of the German Nutrition Society (DGE): Alcohol consumption in Germany, health and social consequences and derivation of recommendations for action – Position statement of the German Nutrition Society (DGE). Ernahrungs Umschau 2024; 71(10) (https://www.dge.de/wissenschaft/stellungnahmen-und-fachinformationen/positionen/alkohol/)
Über 50 % Umsatz mit Risikokonsum: Stüben, N., Kilian, C., Schranz, A., Kraus, L., Möckl, J., Krowartz, E.-M., Olderbak, S., & Manthey, J. (2024). Das Geschäft mit der Sucht – wie viel Umsatz macht die Alkoholindustrie mit Risiko- und Hochkonsum? Suchttherapie, 25(S 01), S48–S49. https://doi.org/10.1055/s-0044-1790409
Oder: https://oamn.jetzt/2024/09/das-geschaeft-mit-der-sucht/
How-To-Stigmatisierung: Link, B. G., & Phelan, J. C. (2001). Conceptualizing stigma. Annual Review of Sociology, 27(1), 363–385. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.27.1.363